Kitsch und Kunst...

12.05.2008 13:18 (zuletzt bearbeitet: 12.12.2008 16:38)
avatar  Nico2
#1 Kitsch und Kunst...
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Hallo allerseits,

ich fang hier mal an, auch wenn ich noch nicht auf viel Anlagendesign-Erfahrung zurückblicken kann und ich mir nicht sicher bin, ob das Thema hier hin passt. Sonst müsst ihr es verschieben (oder mich verreißen...)

Im alten BAE-Unterforum kam mal an anderer Stelle die Frage auf, wie viel Realismus notwendig ist, damit eine Anlage nicht zu kitschig wird. Zwar stellt sich dann die Frage, ob wenig Kitsch = viel Kunst bedeutet, aber ich mach erst mal weiter:
Die Militärmodeller z.B. haben es da gar nicht so leicht: wenn sie eine Szene aus der Etappe darstellen (schon häufig gesehen und zugegebenermaßen modellbauerisch auch häufig toll gestaltet!), kann man ihnen Verklärung und Scheuklappenblick vorwerfen, wenn sie eine Kampfszene oder Verletzte darstellen, Gewaltverherrlichung.

Ganz so dramatisch ist das bei der Modellbahn meist nicht, aber dennoch, es wird ja immer mal wieder angedeutet: ein bisschen Verklärung der berühmten (Klein-) Bahnherrlichkeit scheint immer mit im Spiel zu sein.

Das scheint mir auch ganz logisch, denn eine Modellbahnanlage ist doch immer eine Momentaufnahme einer bestimmten betrieblichen Situation zu einer bestimmten Zeit (oder sie sollte es zumindest sein), die uns eben am besten in den Kram passt. Wie bei „...und täglich grüßt das Murmeltier“ erleben wir immer wieder den gleichen Zeitraum (ok, vielleicht nicht gerade immer denselben Tag wie in besagtem Film, aber auch dazu gibt es modellbahnerische Beispiele), und das nimmt uns z.B. auch die Last, darüber nachdenken zu müssen, ob unsere Eisenbahngesellschaft irgendwann mal pleite macht (wenigstens solange wir’s nicht selber wollen...).

Selbst auf einer Anlage wie Allen McClellands V&O, die eine zeitliche Veränderung durchläuft, findet doch nur deswegen z.B. ein Traktionswechsel statt, weil es eben nicht realistisch wäre, anzunehmen, dass das Unternehmen noch in den 70ern nur mit Dampf fährt. Aber WARUM diese Entwicklung eingetreten ist, nämlich letztlich auch wegen Wettbewerb und Konkurrenzkampf, das wird eigentlich meist nicht oder eher weniger thematisiert. Schließlich handelt es sich ja um die Darstellung einer Transportsituation, nicht um eine Wirtschaftssimulation. Für letzteres sollte man sich dann auch besser eine Computersimulation oder ein gutes Brettspiel aussuchen, keine Modellbahn.

Naja, wir könnten natürlich auch einfach annehmen, dass unsere Eisenbahngesellschaft ein Jahrzehnte andauerndes Transportmonopol aus welchen Gründen auch immer hat, aber das würde allzu häufig wohl ebenfalls eher unter die Kategorie „zu schön um wahr zu sein“ fallen...
Insofern ist auch das Bild einer „realistisch“ gestalteten Anlage eigentlich nie vollständig, sondern von der Wahrnehmung und Absicht ihres Erbauers geprägt, aber das ist doch bei Kunstwerken immer so, oder? Das macht eben ihren Charakter und die Identität aus und heißt ja nicht, dass es sich deswegen um Kitsch handeln muss, eher im Gegenteil.

Was sagt ihr dazu, liege ich damit zu sehr „neben der Spur“?

Viele Grüße

Nico

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11.06.2008 16:15
avatar  OOK
#2 RE: Kitsch und Kunst...
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OOK

Nico,
da hast du jetzt aber ein Fass aufgemacht. Jetzt muss ich alles nochmal durchdenken und schauen, ob ich nicht statt Kunst in Wirklichkeit Kitsch produziere, bzw. ich muss jetzt allerlei Verrenkungen machen, um nachzuweisen, dass es dennoch Kunst ist.

Wie heute üblich, habe ich erst einmal gegoogelt, was da so an Definitionen von Kitsch zu finden ist, bei Wikipedia natürlich und an anderen Stellen. Und dann habe ich mal zusammenkopiert, was mir für das Thema Modellbahn passend erschien (ohne Rücksicht auf die Quelle).

Kitsch
Kitsch steht zumeist abwertend für einen aus Sicht des Betrachters emotional minderwertigen, sehnsuchtartigen Gefühlsausdruck. In Gegensatz gebracht zu einer künstlerischen Bemühung um das Wahre oder das Schöne werten Kritiker einen zu einfachen Weg, Gefühle auszudrücken, als sentimental, trivial oder kitschig.

Folgende Kriterien lassen sich für Kitsch anführen:

* Kitsch wiederholt, was dem Betrachter bereits geläufig ist. Vom Kunstwerk wird Originalität erwartet (Innovationszwang der Kunst).
* Leichte Reproduzierbarkeit (Massenware)

Eine ältere Definition besagt:

* falsch im Ort (etwa: Erzeugnisse der Musikindustrie werden als Volksmusik ausgegeben)
* falsch in der Zeit (etwa: besungen wird eine heile Welt, die es nicht gibt)
* falsch im Material (etwa: Verwendung von Klischees statt echter Gefühle)
* Verniedlichung
* etwas tritt in der Form von etwas ganz anderem auf (z. B. eine Uhr in Gitarrenform)

* Kitsch, um 1870 in Münchener Künstlerkreisen entstandener Begriff, der ursprünglich billig hergestellten Kunstersatz bezeichnete; heute dient der Begriff zur Umschreibung von Produkten aus allen Bereichen der Darstellung (Bild, Text, Musik), die (im Unterschied zum Kunstgewerblichen, zur Unterhaltungsliteratur, -musik) »höhere Werte« vortäuschen und so als etwas »Schönes« erscheinen.

* Die Grenze zwischen Kitsch und Kunst ist nicht immer deutlich, wobei Kunst u. a. auch durch die Art und Weise der Rezeption verkitscht werden kann.

* Kitsch zeigt meist einen Hang zur Gefühlsbetonung, zu einer übertriebenen Romantisierung, zur Verniedlichung und zum Dekorativen, gibt die Wirklichkeit verzerrt, stark vereinfacht oder ungenau wieder, will sich mit klischeehaften, falschen oder übertriebenen Gefühlen beim Publikum einschmeicheln und zielt auf einen unausgebildeten, unkritischen Geschmack.

So, dass wäre die Ausgangslage der Argumentation. Während ich also versuchen werde, nachzuweisen, dass die BAE kein Bisschen Kitsch sondern ach so hohe Kunst ist, dürft ihr auch auf eure Weise versuchen, euch dem Thema anzunähern. Mal schauen, was wir da zusammentragen.


OOK
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12.06.2008 14:21
avatar  wjk
#3 RE: Kitsch und Kunst...
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wjk

Der sicher allseits bekannte Bernhard Stein bekam von seinem Finanzamt irgendwann die Bestätigung, dass er Kunstwerke schaffe. Hier erfolgte also zumindest einmal eine offizielle Einstufung der (gewerblichen) Modellbahnerei als Kunst.
Wenn man mit diesem Wissen seine Werke betrachtet, sieht man, dass der Unterschied zwischen Kitsch und Kunst sehr vom Betrachter abhängig ist. Es finden sich bei ihm regelmäßig Bestandteile, die ich persönlich als kitschig ansehe. Die Wertung wird aber bestimmt bei jedem Betrachter anders ausfallen.


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12.06.2008 22:29 (zuletzt bearbeitet: 12.06.2008 22:41)
avatar  HFy
#4 RE: Kitsch und Kunst...
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HFy
Eine knappe und treffende Definition von Kitsch findet man in der niederländischen wikipedia: "Wenn jemand versucht, Kunst zu machen und dabei unbeabsichtigt scheitert, sprechen wir von Kitsch". Eine weitere Definition: "Erzeugnis der Scheinkunst, das durch Gefälligkeit und Sentimentalität über das Fehlen echter gestalterischer Kräfte hinwegzutäuschen sucht" (Fischer Lexikon, 1979)
Es ist bestimmt kein Zufall, daß wir hier dem GRÖFAZ begegnen. Er schätzte u.A. den Komponisten Wagner, aber wohl nicht wegen dessen musikalischem Avantgardismus, und den Maler Waldmüller, aber auch nicht wegen dessen seinerzeitigen Neuerungen. "Kitschig und dumm bilden ein Trumm" - der das schrieb, war übrigens auch ein Modellbahner, aber ich komme gerade nicht auf den Namen.

Herbert

Nachtrag: Adelbert Muhr hieß er (1896-1977), das Buch heißt "der Feurige Elias" (1976 erschienen)

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05.08.2008 13:58
#5 RE: Kitsch und Kunst...
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Zitat von HFy
...
Nachtrag: Adelbert Muhr hieß er (1896-1977), das Buch heißt "der Feurige Elias" (1976 erschienen)


Welchselbiges für jeden, der sich mit Klein- und Nebenbahnen befasst, äusserst lesenswert ist! Es hat mich zum Beispiel dazu gebracht, mich einmal mit den Mistelbacher Bahnhöfen zu befassen.

Gerd


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15.08.2008 16:18
avatar  OOK
#6 RE: Kitsch und Kunst...
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OOK

Zitat von wjk
Der sicher allseits bekannte Bernhard Stein bekam von seinem Finanzamt irgendwann die Bestätigung, dass er Kunstwerke schaffe. Hier erfolgte also zumindest einmal eine offizielle Einstufung der (gewerblichen) Modellbahnerei als Kunst.
Wenn man mit diesem Wissen seine Werke betrachtet, sieht man, dass der Unterschied zwischen Kitsch und Kunst sehr vom Betrachter abhängig ist. Es finden sich bei ihm regelmäßig Bestandteile, die ich persönlich als kitschig ansehe. Die Wertung wird aber bestimmt bei jedem Betrachter anders ausfallen.

Da habe ich ein lachendes und ein weinendes Auge. Einmal bestätigt ausgerechnet das FA meine im MAD-e-book aufgestellte Behauptung, dass eine Modellbahnanlage Kunst sein kann. Dass nun ausgerechnet ein Kommerzieller diesen Beweis erwirkt, gefällt mir weniger. Das kann ja, schon vom Wort her, allenfalls Kunstgewerbe sein. Und weil die Steinschen Werke kommerziell sind und offensichtlich materiell aus dem Vollen schöpfen, habe ich ihnen nie große Aufmerksamkeit geschenkt und kann daher an der Diskussion, was daran Kitsch und was Kunst ist, nicht teilnehmen. Als Kleingärtner nehme ich ja auch nicht die Bundesgartenschau als Maßstab.

OOK
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24.09.2008 22:18
avatar  Nico2
#7 RE: Kitsch und Kunst...
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Ich verstehe zwar OOK’s Argument mit der Bundesgartenschau, bin mir aber nicht sicher, ob ich dem so zustimmen könnte. Ein Maßstab ist es sicherlich nicht, aber Anregungen kann sich ein Kleingärtner da doch bestimmt schon holen, um’s zu Hause ähnlich zu machen, oder?
Grundsätzlich ist für mich die Unterscheidung „Kunst“ und „Kunstgewerbe“ auch nicht mehr so stark hervortretend. Wenn ich mich recht erinnere, ist z.B. das Bauhaus auch aus einer Kunst- und einer Kunstgewerbeschule entstanden (auch wenn ich absolut kein Bauhaus-Fan bin...). Und ist ein Architekt, ein Regisseur, ein Musiker nur deswegen kein Künstler, weil er mit seiner Kunst Geld verdient und u.U. andere materielle oder finanzielle Möglichkeiten hat als „der armer Poet“?
Immerhin, ich erinnere mich, zuerst in einem Steinschen Buch eine Einführung in Proportions- und Farbenlehre gelesen zu haben, und viele Aspekte auch der Anlagengestaltung waren für mich als Spiel- und Plattenbahner damals völlig neu und haben nicht unbedingt zu einer negativen Wandlung beigetragen – finde ich wenigstens...
Nico


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24.04.2010 17:30
avatar  HFy
#8 RE: Kitsch und Kunst...
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HFy

Ich hab noch was von Prof. Jan Pieper von der RWTH: "Kitsch definiert man als ein Zuviel an Intention bei gleichzeitiger Verkümmerung der künstlerischen Form".


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